Pfarrer Mörike

Auf eine Christblume
Auf eine Christblume
I
Tochter des Walds, du Lilienverwandte,
So lang von mir gesuchte, unbekannte,
Im fremden Kirchhof, öd’ und winterlich,
Zum erstenmal, o schöne, find’ ich dich!
Von welcher Hand gepflegt du hier erblühtest,
Ich weiß es nicht, noch Wessen Grab du hütest;
Ist es ein Jüngling, so geschah ihm Heil,
Ist’s eine Jungfrau, lieblich fiel ihr Theil.
Im nächt’gen Hain, von Schneelicht überbreitet,
Wo fromm das Reh an dir vorüber weidet,
Bei der Kapelle, am krystall’nen Teich,
Dort sucht ich deiner Heimath Zauberreich.
Schön bist du, Kind des Mondes, nicht der Sonne;
Dir wäre tödtlich andrer Blumen Wonne,
Dich nährt, den keuschen Leib voll Reif und Duft,
Himmlischer Kälte balsamsüße Luft.
In deines Busens goldner Fülle gründet
Ein Wohlgeruch, der sich nur kaum verkündet;
So duftete, berührt von Engelshand,
Der benedeiten Mutter Brautgewand.
Dich würden, mahnend an das heil’ge Leiden,;
Fünf Purpurtropfen schön und einzig kleiden:
Doch kindlich zierst du, um die Weihnachtzeit,
Lichtgrün mit einem Hauch dein weißes Kleid.
Der Elfe, der in mitternächt’ger Stunde
Zum Tanze geht im lichterhellen Grunde,
Vor deiner mystischen Glorie steht er scheu
Neugierig still von fern und huscht vorbei.
II
Im Winterboden schläft, ein Blumenkeim,
Der Schmetterling, der einst um Busch und Hügel
In Frühlingsnächten wiegt den sammt’nen Flügel;
Nie soll er kosten deinen Honigseim.
Wer aber weiß, ob nicht sein zarter Geist,
Wenn jede Zier des Sommers hingesunken,
Dereinst, von deinem leisen Dufte trunken,
Mir unsichtbar, dich blühende umkreist?